#MonatsImpuls August 2023
„So schmeckt der Cocktail am Pool noch eine Spur besser..."
Liebe Leserinnen und Leser,
der klassische Zeitraum, um über sich zu reflektieren, ist eigentlich das Jahresende. Das Weihnachtsfest im Kreise der Familie war wunderschön, alles steht wieder an seinem Platz und Silvester liegt noch einige Tage voraus. In den Medien laufen Jahresrückblicke in Dauerschleife und regen dazu an, auch persönlich darüber nachzudenken, was das letzte Jahr an Highlights und Tiefschlägen gebracht hat.
Der Sommer mit seinen Schulferien ist aber für viele ein ebenso starker Einschnitt und der Sommer, in dem es nicht opportun ist, sich allzu stark zu bewegen außer im Wasser, lässt Raum zum Nachdenken und Nachsinnen. Bei einem leckeren Cocktail im Liegestuhl am Pool döst man vor sich hin und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Je nach Persönlichkeit kreisen die Gedanken um Erfolge, schöne Erlebnisse, beglückende Begegnungen oder um Trauriges, Schweres, Lähmendes, das möglicherweise immer wiederkehrt. Wer eine stabile Persönlichkeit hat, kennt auch beides, u. U. gar nicht weit von einander entfernt. Dann stellt sich die Frage: Wie schaffe ich es, aus der Spirale nach unten, aus dem Muster, mich selbst fertig zu machen, auszubrechen? Jetzt komme ich endlich zur Ruhe, könnte meine Zeit genießen und dann kommen mir diese fertigmachenden Gedanken. Was soll das?
Wenn es uns so geht, sind wir schon einen Schritt weiter als viele andere, die stets andere dafür verantwortlich machen wollen, dass es ihnen gerade nicht so gut geht. Denen sagte schon Jesus: „Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein“ (Joh 8,7) und richtete damit den Blick nach innen statt nach außen. Wie das völlig überzogen geht, hat Augustin im 4. Jahrhundert formuliert, als er auf die Idee mit der Erbsünde kam: Weil Adam und Eva gesündigt haben, können alle weiteren Geschlechter nicht anders, als zu sündigen. Ein absurder Gedanke für alle Juden, aus deren Tora die Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies stammt. Denn davon steht dort nichts. Im Gegenteil: Nachdem Gott den Menschen erschaffen hatte, stellte er fest: Und siehe, es war alles sehr gut.
Wenn also Augustin schwer übertrieben hat, und wir nicht anderen die Schuld für unsere selbstkritischen Gedanken in die Schuhe schieben wollen, wie können wir sie lösen?
Dass Gott sich über jeden reuigen Sünder freut und ihm gerne vergibt, findet sich nicht nur in den Gleichnissen Jesu, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch das erste und zweite Testament. Wenn wir diese Zusage ernst nehmen, dann können wir die Vergebung Gottes in uns aufnehmen und uns selbst vergeben, was wir wieder alles negativ getan und gedacht haben.
Die Universität von Ohio hat in einer Studie von 2016 genauer untersucht, wie das gut gelingen kann: Zu Beginn steht die Trauer darüber, etwas falsch gemacht zu haben. Gleichzeitig erkennen wir genau, was da wie schief gelaufen ist und können den Fehler klar benennen. Schließlich realisieren wir, dass kein anderer dafür gesorgt hat, sondern allein wir; wir übernehmen die Verantwortung dafür. Wenn wir so weit sind, ist es bis zur Reue nicht weit, die sich in uns bereit macht. Und von dort ist es leicht und logisch, eine Wiedergutmachung anzubieten. Der letzte Schritt ist fast der mutigste: Wir bitten um Verzeihung. Wir gehen nicht davon aus, dass der von uns Geschädigte (ja, im Zweifel sogar wir selbst mit unseren negativen Gedanken) uns vergibt. Wir bitten darum. Das Gegenüber (und wir selbst) sind frei zu entscheiden: „Ja, ich vergebe Dir“ oder „Nein, das schaffe ich jetzt nicht“.
Im Vertrauen auf die Vergebung Gottes, die wir in Jesus konkret gezeigt bekommen haben, können wir vergeben – anderen und uns selbst, denn der Geist Gottes ist in den Schwachen mächtig (2.Kor 12,9). Wenn uns das gelingt, schmeckt der Cocktail am Pool noch eine Spur besser, denn wir werden innerlich frei, um alle Geschmacksanteile mit jedem Schlückchen voll genießen zu können.
Pfarrer Johannes Münden, Schulpfarrer am Sebastian-Münster-Gymnasium in Ingelheim
#MonatsImpuls Juli 2023
„Licht und Luft zum Glauben“ – wirklich?
Liebe Leserinnen und Leser,
vor einer Bewerbung steht die Recherche. Was ist das für eine Firma oder Organisation? Was ist das für eine Stelle? Für meine Bewerbung als Transformationsunterstützer hatte ich mir deshalb intensiv die Internetseiten zu ekhn2030 angeschaut. „Licht und Luft zum Glauben“, las ich da als Leitgedanke und fand es durchaus ansprechend.
Wie oft stand ich als Pfarrer der bayerischen Landeskirche an der Osterkerze, habe dort eine Taufkerze entzündet und mit den Worten gedeutet: „Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8,12)
Und Luft brauchen wir alle. Als Gemeindeberater hatte ich oft genug erlebt, wie den Kolleg:innen unter der Last der Aufgaben und Erwartungen die Luft ausging. Strukturen verändern, damit wir wieder Luft bekommen und uns vom göttlichen Wind bewegen lassen, las ich in dem Motto. Denn weht der Geist nicht wo er will und bewegt die Kinder Gottes? In der Überlastung wird man starr und da kann der Wind wehen wie er will.
In der EKHN angekommen, erfuhr ich dann, dass der Leitgedanke von ekhn2030 - gelinde gesagt – von vielen wenig geliebt wird. Manche empfinden ihn als geistlich dünn und "die da oben" wollen ja eh nur Geld sparen. Veränderungsprozesse können scheitern und binäres Denken in „die da oben und wir hier unten“ oder auch „Struktur versus Inhalt“ ist eine der Ursachen.
Jeder Veränderungsprozess erzeugt Gewinne und Verluste. Und die Erfahrung zeigt: Je mehr ich an der Vergangenheit festhalte und versuche Verluste zu vermeiden, umso weniger kann ich die Chancen der Veränderung entwickeln. Es summieren sich dann die negativen Effekte auf, ohne dass es auf der anderen Seite positive Entwicklungen gibt.
Positive Energie bekommt Veränderung dann, wenn Chancen ergriffen werden. Wenn Vergangenes betrauert aber dann auch los gelassen wird. Wenn Neues entstehen darf. Der Prozess ekhn2030 trägt große Möglichkeiten in sich, Kirche neu zu denken und zu entwickeln. Strukturelle Veränderung und inhaltliche Weiterentwicklung können Hand in Hand gehen.
Als Transformationsunterstützer ist es meine Aufgabe, Dekanate und Nachbarschaftsräume auf diesem Weg zu unterstützen. Und ich vertraue darauf, dass es gelingt, wenn wir unseren Auftrag nicht aus dem Auge verlieren. Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Als Kirche verkünden wir den Auferstandenden. Gut, wenn wir sein Licht sehen und uns vom ihm die Richtung weisen lassen und dann genug Luft haben, die frohe Botschaft auch fröhlich weiterzusagen.
Pfarrer Axel Conrad
Transformationsunterstützer im Regionalbüro "Vernetzte Beratung ekhn2030" für Rheinhessen, Wiesbaden und das Nassauer Land
#MonatsImpuls Juni 2023
"Ganz neu träumen, was ich in Zukunft suche ..."
Liebe Leserinnen und Leser,
„Mit siebzehn hat man noch Träume“, das ist ein Schlagertext aus meiner Jugend. Jetzt, wo ich auf den Ruhestand zugehe, fragen mich Menschen oft, was ich mir vornehme, wenn ich demnächst nicht mehr beruflich eingespannt bin. Manche schauen dann ziemlich besorgt aus und haben Bedenken, ob ich mit dem Zustand als Rentnerin vielleicht nicht klarkomme. Und ich denke schmunzelnd daran, dass es in der Bibel eher heißt: „Mit siebzig hat man noch Träume.“
Genaugenommen steht da gar keine Jahreszahl. Der Prophet Joel beschreibt (Joel 3), wie sich der Geist Gottes auswirkt: Alte und Junge und die ganze Schöpfung sind davon bewegt. Die Alten – und eben nicht nur die Jungen, – haben Träume, Visionen, Zukunftshoffnung, Ideen.
Mir gefällt die Beschreibung, dass es mit Gottes Geist gerade die Alten sind, die Träume haben, denn manchmal habe ich das Gefühl, dass man heutzutage gerade das der älteren Generation abspricht. Gebrechlichkeit, Unbeweglichkeit, Armut, Einsamkeit, das sind die Themen, die viele vor allem mit dem Thema Älterwerden verbinden. Ja, das kann man so machen. Aber es ist doch nur die halbe Wahrheit. Und ist es nicht die Generation der Älteren, die mitreden sollte, wenn es darum geht, neues zu konstruieren, zu entwickeln und zu entdecken?
„Hab ich gehabt, brauche ich nicht mehr.“ Das ist ein Satz, den mir ein 80jähriger mal als sein Lebensmotto verraten hat. Und mit dem er begründet, dass manche Dinge, die schnelllebig sind, sich für ihn schon bald erledigt haben. Er hatte Lust und vor allem auch die Freiheit, viel Neues auszuprobieren und alte Zöpfe buchstäblich abzuschneiden. Hab ich gehabt, brauche ich nicht mehr. Manche Sache, von der ich mir als junger Mensch vorstelle, wie unbedingt nötig sie für mich wäre – die sortiert sich da schnell aus und macht Platz für wirklich Neues.
Wenn ich an diese Formel denke, dann freue ich mich auf den Ruhestand als eine Zeit, mit der ich ganz neu träumen möchte, was ich in Zukunft suche.
Ihre Manuela Rimbach-Sator, Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde Oppenheim
#MonatsImpuls Mai 2023
"Was macht Ihre Seele heute so?"
Liebe Leserinnen und Leser,
„Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“ (Psalm 42,2)
Tja, das ist so ein Bibelvers, der – mir jedenfalls – gut im Gedächtnis bleibt. Sehr bildstark! Das kennen Sie doch bestimmt auch noch von früher, in manchem deutschen Wohnzimmer, da hing er, über der Anrichte, der röhrende Hirsch auf der Lichtung im dunklen Tann. Ob der wohl lechzt? Eins von diesen alten, interessanten Wörtern: Lechzen. Wie geht das? Ich denke sofort an die Zunge, die aus dem Mund hängt, die Augen des Zungenbesitzers weit aufgerissen vor Verzweiflung, vor Verlangen. Comicbilder vom Wanderer in der Wüste. Der Schweiß perlt ihm von der Stirn. Er ist durstig. Dann die Fata Morgana: Ein großes frischgezapftes Bier mit schöner Schaumkrone. Wahlweise Apfelsaftschorle. Und er lechzt!! Das hat irgendwas mit der Zunge zu tun: Ich lechze nach einem Eis, es ist so heiß, und ich lecke freudig daran. So soll meine Seele also auch lechzen… Oh, Moment, nein: Sie schreit ja, die Seele.
Was macht Ihre Seele heute so? Der Psalmbeter weiß es. Ich eher nicht. Wenn sie schreit, müsste man es ja merken. Meistens ist sie unauffällig.
Wenn einen eine richtig starke Sehnsucht erfüllt – gar nicht mal konkret, mehr so unbestimmt – eine unbändige Sehnsucht nach Leben, nach frischem Wind um die Nase, weil man so festgemauert ist in seinem Alltag, in dem kleinen Alltagskaro. So ein großes Verlangen nach Freiheit, Aufbrechen, was erleben. Das könnte sie gut sein, meine Seele, die sich sehnt. Und wenn es einem schlecht geht, richtig schlecht, dieses fast schmerzhafte Verlangen danach, dass das weggeht, dass man wieder in einem angenehmen Leben landet. Vielleicht merke ich das Schreien meiner Seele auch nicht. Vielleicht ist sie schon so ausgetrocknet wie der Wüstenwanderer im Comic und kann gar nicht mehr laut schreien. Eine vertrocknete Seele… – die lechzt nach frischem Wasser, wie das Vieh. Haben Sie schon mal Rinder nach Wasser brüllen hören? So in der Art.
„Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele“ (Psalm 23). Genau damit nämlich. Wo ist denn die Quelle, die das Verlangen meiner Seele stillt? „Bei dir ist die Quelle des Lebens“ (Psalm 36,10) – bei Gott nämlich. Es ist nicht dies und das, wonach unsere Seele schreit oder lechzt: Der tolle Urlaub, das tolle Haus, das tolle Auto, die tolle Familie – das ist alles okay, aber nicht das, wonach die Seele verlangt. Ihren Durst stillt Gott selber. Wenn du das Verlangen spürst, wende dich ihm zu. Er kann. Und will. Und wenn dieses Verlangen gestillt ist, und du bist erquickt, dann wende dich Gott zu und sage: „Danke!“ Du hast aus der Quelle des Lebens getrunken. Jesus sagt: „Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten“ (Joh.6,35). Jesus stillt das Verlangen unserer Seele, immer wieder. In ihm ist die Quelle des Lebens mitten unter uns. Und das Lechzen wird gestillt. Und der Seele geht es wie dem armen Wüstenwanderer, der dann endlich, endlich sein großes Bier – wahlweise große Apfelsaftschorle – trinkt und hinterher noch ein Eis leckt.
Meint jedenfalls Ihr Stephan Sunnus, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Harxheim - Gau-Bischofsheim
Evangelische Kirchengemeinde Harxheim - Gau-Bischofsheim
#MonatsImpuls April 2023
Mit oder ohne Kirche endgültig Abschied nehmen?
Liebe Leserinnen und Leser,
ich wundere mich. Oder auch nicht mehr. Nach einer kürzlich veröffentlichen Umfrage glauben 38 Prozent der Menschen an ein Leben nach dem Tod, 55 Prozent glauben dies nicht. Der Rest machte dazu keine Angaben. Also gut nur noch ein Drittel der Menschen in unserem Land glauben daran, dass nach dem Tod noch etwas kommt. Und darunter sind wohl auch einige, die sich als Christen bezeichnen oder zumindest noch in einer der beiden großen Kirchen sind (26 % katholisch, 23,5 % evangelisch).
Und ich beobachte vor Ort in meiner Gemeinde einen Trend, der mich etwas ratlos macht: Immer mehr Gemeindemitglieder lassen sich nicht mehr kirchlich beerdigen, kommen ohne Pfarrer und kirchliche Aussegnung aus. Ich frage mich, woran liegt das?
Aber klar, wenn immer mehr Menschen nicht mehr an ein Leben nach dem Tod glauben, dann brauchen sie wohl auch keine kirchliche Bestattung, die genau davon spricht. Es zeigt sich, dass die christlichen Kirchen als Anlaufpunkt für Menschen beim Thema Tod an Bedeutung verlieren. Ich finde das sehr bedauerlich.
Denn ich finde es tröstlich und hilfreich, bei einer Beerdigung von der Hoffnung zu reden, die über den Tod hinausgeht. Die uns ein Leben nahe bei Gott verheißt, bei dem wir unseren ewigen Frieden finden, der zurecht bringt, was hier auf Erden vielleicht schwierig war. Das Leben einer verstorbenen Person im Angesicht des Wortes Gottes zu würdigen, ihn in seine Hände zu übergeben und zu wissen, da ist er gut aufgehoben, das macht für mich das Besondere einer christlichen Beerdigung aus. Und natürlich auch den Angehörigen und Trauernden Trost zuzusprechen.
Ich halte das für eine der wichtigsten Aufgaben eines Pfarrers, einer Pfarrerin. Und ich komme dem, auch wenn es manchmal schwere und bedrückende Momente sind, gerne nach. Dafür bin ich Gemeindepfarrer geworden.
Wir haben kürzlich Ostern gefeiert. Das Fest der Auferstehung Jesu und der Auferstehung der Toten. Davon sollten wir nicht schweigen. Dafür ist die Botschaft zu einmalig und zu wunderbar: Gott ist bei uns - im Leben und nach unserem Leben hier auf Erden im Tod und Ewigkeit. Daran glaube ich.
Markus Weickardt, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Gensingen-Grolsheim
Evangelische Kirchengemeinde Gensingen-Grolsheim
#MonatsImpuls März 2023
Im Gespräch
Liebe Leserinnen und Leser,
gehören Sie zu den Personen, die manchmal mit Gegenständen sprechen? Wenn ein runtergefallener Tomatensuppen-Löffel ausgiebig beschimpft wird, ist das vielleicht ein brauchbares Ventil für den spontanen Ärger über die entstandene rote Schweinerei, gleichzeitig ist es „cringe" – ein bisschen peinlich. Ich möchte Sie heute anregen, mit Gegenständen in Ihrer Kirche ins Gespräch zu kommen. Dabei braucht ja niemand zuzuhören, und Gott versteht Sie schon (mehr lesen).
Naheliegend beim Betrachten von Kirchen ist der Gedanke, dass diese alten Steine schon viele erleichterte Dankgebete gehört und manche Träne gesehen haben. Vielleicht fühlt man sich deshalb oft gut aufgehoben in diesen besonderen Wänden. Natürlich schauen wir in der Regel auch den Altar an, sehen die Kerzen, die Bibel und die Blumen… Aber auf was ist Ihr Blick bei Ihrem letzten Kirchenbesuch noch gefallen? Auf ein besonderes Fenster? Oder einfach auf den Haken an der Vorderbank, der mal für Hut oder Handtasche angebracht wurde (und jetzt so quietscht, wenn Kinder ihn gelangweilt hin- und herbewegen)? Kommen Sie doch mal mit dem Fenster oder dem Haken ins Gespräch.
Der Haken könnte davon erzählen, dass in dieser Bank schon vieles seinen Platz gefunden hat. Erzählen Sie dem Haken, was Sie gerne innerlich aufräumen würden, was einen guten Platz, einen Haken braucht, damit es Sie nicht mehr umtreibt. Vielleicht ist so ein Hut-und-Handtaschen-Kirchenbank-Haken ein guter Gesprächspartner für solche Dinge.
Auf dem Foto hier sehen Sie ein Kirchenfenster neben der Orgel in der Johanneskirche Bingen, das für die Gemeinde kaum sichtbar ist, weil es sich auf der Empore und im Rücken der Gottesdienstbesucher befindet. Aber vom Altar aus fällt mein Blick immer auf dieses Fenster mit der Taube. Ich erzähle ihm von meiner Sorge um die ukrainischen Nachbarn, die jetzt mit ihren Kindern nach Kiew zurückgehen wollen und schicke die Friedenstaube mit dem Zweig in Gedanken und im Gebet mit ihnen. Hoffnung für den Neuanfang, obwohl die Tür des Schiffes nach der Sintflut noch zu ist.
Ich meckere über die nervige Person vorhin. Die Taube zeigt mir die vielen unterschiedlichen Tiere in der Arche von diesem Noah und fragt, ob ich tauschen wolle. Ich erinnere mich mal wieder, die Vielfalt des Lebens ist gewollt, auch wenn mich das manchmal anstrengt.
Haken- und Fenstergespräche in der Kirche. Kommen Sie doch mal mit einem Gegenstand in Ihrer Kirche ins Gespräch. Dabei braucht ja niemand zuzuhören, und Gott versteht Sie schon.
Tanja Brinkhaus-Bauer, Pfarrerin der evangelischen Johanneskirchengemeinde Bingen, März 2023
Evangelische Johanneskirchengemeinde Bingen
#MonatsImpuls Februar 2023
Leben und Glaube – ein großes "Strickwerk"
Liebe Leserinnen und Leser,
wer mich kennt, weiß, dass das Handarbeiten mir große Freude macht. Ungezählt sind die Tücher für Hals und Schulter, die ich schon gestrickt habe, und in der Pandemie habe ich mich wieder an kompliziertere Projekte gewagt: Socken oder Pullover mit Norwegermuster. Das Ergebnis erfreut nicht nur mich, sondern auch diejenigen, die von mir bestrickt werden. Mir selbst tut das Stricken einfach gut, denn es hilft mir Abstand von meinem Alltag zu bekommen und wahrzunehmen, was mich innerlich bewegt, und deshalb auch Ruhe zu bringen in meine Gedanken. Bei meinen ersten Schweigeexerzitien hatte ich Wolle und Nadeln dabei und habe entdeckt, wie meditativ Stricken sein kann. Masche für Masche, Reihe für Reihe. Geduld und Gelassenheit sind hilfreich, wenn ich ein Strickwerk beginne und vor allem zu Ende bringen möchte.
Denn nicht immer läuft alles glatt. Manchmal entdecke ich viele Reihen später einen Fehler und stehe dann vor der Entscheidung, durchaus auch mal verärgert oder frustriert, alles wieder aufzuziehen. Dann kräuselt sich die Wolle neben mir, und ich habe Mühe, sie ohne Knoten und Verwirrungen zurück aufs Knäul aufzuwickeln. Oder ich entscheide mich, den kleinen Fehler drin zu lassen. Schließlich ist es Handarbeit, die muss nicht perfekt sein, und vielleicht darf ich das ja zulassen oder sogar andere sehen lassen.
Erkennen Sie in diesen Strick-Erfahrungen auch Erfahrungen aus anderen Lebenssituationen? Manchmal denke ich, das Leben wie der Glaube sind wie ein großes Strickwerk. Verschiedenste Garne und Fäden, die ineinander gearbeitet werden. Mal schön und harmonisch, Muster in hellen Farben von einem guten Leben, und dann wieder: Aufgeribbeltes neu verarbeitet, kleine Knoten, die bleiben, dunkle oder blasse Farbtöne, Erinnerungen an Zeiten voller Sorge, Aufgeriebensein oder gar Krise. Manchmal gelingen die Dinge und gleiten geschmeidig durch die Hände, und dann wieder diese kraftraubende Anstrengung, schon wieder, neu anfangen zu müssen, um dann – hier und da wenigstens – mit Abstand festzustellen, dass es sich gelohnt hat, alles besser passt.
Geduld und Gelassenheit, das lehrt mich das Stricken. Gar nicht so einfach, dies an anderen Stellen des Lebens aufzubringen, dennoch so wichtig wie wohltuend, wenn sie gelingen. Man muss nicht Stricken, um dies zu erfahren. Das morgendliche Atem-Gebet oder das Innehalten am Abend, um die drei Freuden eines Tages einzusammeln, sind schöne Übungen, um das „Strickwerk“ des Lebens anzunehmen und zu gestalten. Wunderbar, wenn wir selbst immer wieder mit dem Blick auf das eigene Leben und die Welt sehen und erfahren: was für ein schönes Werk, trotz oder gerade wegen aller Arten von Fäden und Maschen.
Mögen wir daher immer wieder sagen können: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139, 14).
Elke Stein, Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde Nieder-Olm, Februar 2023
Evangelische Kirchengemeinde Nieder-Olm
#MonatsImpuls Januar 2023

„Jetzt ist die Zeit!“ - Der Kirchentag als lebenslange Inspiration
Liebe Leserinnen und Leser,
es war im Frühjahr 1981. Helmut Schmidt war Bundeskanzler und an der innerdeutschen Grenze bedrohten sich die Machtblöcke mit immer neuen Raketen. Dagegen stellte sich die wachsende Friedensbewegung auf beiden Seiten der Mauer: „Schwerter zu Pflugscharen!“ stand auf den Aufnähern staatsunabhängigen Abrüstungsinitiativen in der DDR. „Umkehr zum Leben“ auf den lila Schals der Kirchentagsbewegung im Westen.
Einer, der diesen Schal ab Ende Mai 1981 auch im Schulunterricht trug, war ich – begeistert vom Deutschen Evangelischen Kirchentag, der 1981 in Hamburg stattfand. Mit mehr als 100.000 weiteren Dauerteilnehmer*innen tauchte ich für fünf Tage tief ein in die vielfältigen Diskussionen über Friedenspolitik, Gerechtigkeit, Glauben und Leben. Seitdem – immerhin 42 Jahre lang – ist der Kirchentag eine Kraftquelle für mein Leben, zunächst als Schüler, dann als Theologiestudent und seit 1994 als Vikar und Pfarrer. Von den 16 Kirchentagen einschließlich der ökumenischen habe ich nur zwei versäumt – da war ich Pfarrer in den USA und die Anreise doch zu weit.
Die Kirchentagsbewegung hat es geschafft, immer wieder die aktuellen gesellschaftlichen Themen aufzugreifen und mit der biblischen Tradition und der Praxis der Kirchen in einen produktiven Dialog zu bringen. So kontrovers auch auf den Podien des Kirchentages diskutiert wird – das war schon 1981 zwischen Helmut Schmidt als Befürworter und Erhard Eppler als Gegner neuer Atomraketen der NATO so -, so respektvoll werden die Meinungen der anderen gehört und bedacht. Das war beim letzten Kirchentag in Präsenz 2019 in Dortmund wieder der Fall, als die Flüchtlingsfrage im Mittelpunkt stand: Sollen wir alle, die im Mittelmeer unterwegs nach Europa sind, auffischen und an Land bringen? Und wenn ja, in welches Land?
Beim Kirchentag 2023, der vom 7. bis zum 11. Juni in Nürnberg stattfindet, geht es unter dem Motto „Jetzt ist die Zeit!“ wieder um Krieg und Frieden, aber mit ganz anderen Voraussetzungen als früher. Und die Frage der Klimagerechtigkeit wird auch von vielen Seiten bedacht werden.
Neben allen Welt-Themen machen die fünf Tage Kirchentag auch viel Spaß: Wenn spätabends in der Quartiersschule zur Gitarre gesungen wird, oder wenn, wie in Dresden 2011, sich eine übervolle Straßenbahn auf dem Weg zum Messegelände mit dem Kanon „Der Himmel geht über allen auf“ in einen mehrstimmigen Chor verwandelt.
Gerade für junge Menschen, die ihre Kirchengemeinde vor Ort eher langweilig finden (so wie ich mit 16), bietet der Kirchentag eine Fülle von Ideen, Motivation, Glaubensfreude, neuen Kontakten und Spaß. Das hält lange an!
Und daher begleite ich seit 2007 Gruppen aus unserem Dekanat zu den Kirchentagen. Für Nürnberg ist schon ein Doppelstock-Bus gebucht, der von Bingen bis Guntersblum Zustiegsmöglichkeiten bietet. Mitfahren können alle ab 16, in Begleitung von verantwortlichen Gemeindegliedern auch ab 14 Jahren. Näheres dazu unter ej-ingopp.de. Jetzt ist die Zeit – auf nach Nürnberg!
Wer sich schon vorher mit dem Thema auseinandersetzen will: Am 5.2. ist bundesweit Kirchentags-Sonntag. Vertreter*innen des Kirchentagspräsidiums sind an diesem Sonntag als Gastprediger unterwegs, so auch die Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Nicola Beer aus Frankfurt, die um 10:00 Uhr in der evangelischen Kirche zu Guntersblum predigen wird und im Anschluss zum Gespräch bereitsteht.
Johannes Hoffmann, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Guntersblum, Januar 2023
Evangelische Kirchengemeinde Guntersblum
#MonatsImpuls Dezember 2022

Das Potenzial des Senfkorns: Gedanken zu einer Grundhaltung christlichen Glaubens – gerade in dieser Weihnachtszeit
Liebe Leserin, lieber Leser,
so groß wie die Spitze einer Stecknadel ist der Samen des orientalischen Senf. Man braucht schon eine Lupe, um es sich genauer anzusehen und als ich es vor gut einem Jahr gepflanzt habe, habe ich mich schon gefragt, was daraus wohl werden wird? Und ehrlich, am Anfang hat es lange gedauert und über lange Zeit habe ich befürchtet, dass ich irgendwelches Unkraut aus der Blumenerde mühsam heranzüchte. Doch dann im Frühjahr habe ich es in den Garten gepflanzt und die Pflanze ist wahrlich explodiert – mittlerweile fast vier Meter hoch und überragt damit alles, was wir im Garten haben.
Jetzt verstehe ich, dass dieses kleine Samenkorn ein zentrales Beispiel für das Reich Gottes, aber für mich auch für unseren Glauben ist – so heißt es: Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte; das ist das kleinste unter allen Samenkörnern; wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum, dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen (Mt 13,31f).
Eine Erinnerung, was für ein Potential, was für eine Hoffnung uns Gott in seiner Botschaft, in seinem Evangelium zur Verfügung stellt. So klein und unscheinbar vieles doch ist, was wir als Kirche gerade tun und erleben, so groß und segensreich kann das alles wieder werden.
Dabei stecken für mich in diesem Vers noch zwei wichtige Gedanken:
Es braucht die Zeit des Wachsens
Ich gebe zu, auch ich bin eher ein ungeduldiger Mensch. Deswegen fällt es mir nicht leicht, dass sich viele Prozesse in der Kirche und der Gesellschaft gerade so mühsam hinziehen. Schnell denke ich auch an den starken Menschen, der jetzt mal sagt, wo es lang gehen soll und dann wäre alles klar.
Doch damit überzeugen wir Menschen kaum. Gewiss machen sie dann dieses und jenes, aber nicht von Herzen. Sie werden Auswege suchen und nur das Nötigste tun. Doch wenn wir uns Zeit dafür nehmen, damit neue Gedanken wachsen und reifen können, so können wir die Herzen der Menschen erreichen. Dann werden sie sich auch dafür engagieren und wir erreichen auf lange Sicht wesentlich mehr Menschen, denn so ein Prozess ist eben nachhaltig und verwurzelt.
Die Vögel wohnen in den Zweigen
Das Beispiel erinnert mich außerdem daran, dass wir solch ein Wachstum nicht um unserer selbst, sondern um der anderen Menschen erstreben. Gerade im Hinblick auf die Veränderungen im kirchlichen Bereich ist mir dieser Gedanke sehr wichtig. Wir sind doch nicht Kirche um unseretwillen, sondern um des Evangeliums und seiner Verkündigung willen. Und wenn sich Dinge verändern, gilt es weiter zu wachsen, sich zu entwickeln, neue Knospen anzusetzen, aber auch alte Triebe und trockene Äste abzuschneiden. Wenn uns die Menschen, Gottes Geschöpfe, am Herzen liegen und vor Augen stehen, dann werden wir wieder neu wachsen und Gottes Segen erfahren.
All das geht mir durch den Kopf – gerade in dieser Weihnachtszeit. Denn wir feiern das Kommen Gottes vor gut 2000 Jahren – nicht als einen großen Herrscher, sondern als kleines, unscheinbares Kind, das in Bethlehem in einem Stall zur Welt gekommen ist und von dem die große Welt damals kaum Notiz genommen hat. Doch nach und nach ist es gewachsen und offenbarte sich als der Sohn Gottes. Der sich Zeit nahm, um seine Botschaft Jüngerinnen und Jüngern zu erklären, der dann aber nicht um seiner selbst willen gelebt hat, sondern um unseretwillen am Kreuz starb und von Gott wieder auferweckt wurde – und am Ende der Tage wiederkommen wird.
Das kleine Kind in der Krippe wurde somit zum Retter dieser Welt – das können wir auch in diesem Jahr wieder feiern. Ich wünsche Ihnen eine frohe und gesegnete Weihnachtszeit.
Pfarrer Olliver Zobel, Dekan des Evangelischen Dekanats Ingelheim-Oppenheim, Dezember 2022
Evangelisches Dekanat Ingelheim-Oppenheim
#MonatsImpuls November 2022

Ein Ausflug zu den Kirchen und Klöstern Armeniens
Ende September hatten meine Frau und ich Gelegenheit, mit einer kleinen Reisegruppe für eine Woche durch Armenien zu reisen. Wir hatten schon länger davon geträumt, dieses geschichtsträchtige Land mit seinen Kirchen und Klöstern, seiner schroff-schönen Gebirgslandschaft und seiner geschmackvollen Küche näher kennenzulernen.
Ein erster Ausflug führte uns zu den Ruinen der Palastkirche in Zvarthnots am Fuß des Berg Ararats. Von der Kirche und dem Palast des Kirchenoberhaupts ist nicht mehr viel zu sehen. Die Anlage wurde im Jahr 930 Opfer eines Erdbebens und später nicht wieder aufgebaut. Archäologen vermuten, dass das Gotteshaus einmal dreistöckig gewesen ist. So wie die Arche Noah, die auf dem nahegelegenen Berg in der heutigen Türkei am Ende der Sintflut strandete. Eine Kirche wie das dreistöckige Schiff, der große Kasten, der das Überleben von Mensch und Tier nach der Katastrophe garantieren soll. Auf engem Raum eingezwängt, von allen Seiten bedroht und auf Gottes Güte angewiesen. So sieht und erfährt sich die armenische Kirche bis heute. Sie gehört zu den ältesten christlichen Kirchen überhaupt. Bartholomäus und Thaddäus, zwei Jünger Jesu, sollen sie vor Zeiten auf ihrem Weg nach Indien gegründet haben. Bereits im Jahr 301 wurde das Christentum hier Staatsreligion. Weltweit soll es rund 10 Millionen Armenier geben. Davon leben gerade mal 3,5 Millionen im eigenen Land.
Die Nachbarn Armeniens, das in früheren Zeiten zehnmal so groß gewesen sein soll, sind heute Georgien, Aserbaidschan, die Türkei und der Iran. Der Berg Ararat liegt inzwischen auf türkischem Staatsgebiet. In einer gut siebentägigen Exkursion kann man den über fünftausend Meter hohen Gipfel besteigen. Bis heute ist der sagenumwobene Berg im Nationalwappen Armeniens zu sehen. So wird die biblische Geschichte wachgehalten: trotz allem menschlichen Versagens gibt es eine zweite Chance für die Schöpfung. Mensch und Tier sollen miteinander überleben, so der erklärte Wille Gottes: „Es sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1. Mose 8, 22). Die Arche Noah ist auch ein Bild für die christliche Kirche, die nach wie vor unterwegs ist, manchen Stürmen ausgesetzt und immer wieder zu neuen Ufern aufbrechen muss. So wie wir gegenwärtig in Hessen und Nassau. Angesichts zurück gehender Mitgliederzahlen und geringer werdendem Personal gilt es über den eigenen Kirchturm hinaus zu schauen und neue Formen der Gemeindearbeit auszuprobieren.
Die armenische Kirche ist klein und alt, immer wieder bedroht und verfolgt, angegriffen und in die Enge getrieben. Sie ist aber auch entschlossen, zu überleben und das Versprechen Gottes für die ganze Schöpfung wach zu halten trotz aller Hindernisse und Herausforderungen. Die imposante Kirche von Zvarthnots ist durch ein Erdbeben zerstört worden. Von dem großen Gebäude sind nur wenige Säulen und Steine übrig geblieben. Doch das Modell dieser Kirche kann man vor dem Nationalmuseum in Eriwan bewundern: ein dreistöckiger Kasten, der auf engem Raum vielen Menschen und vielen Tieren Platz bietet und auf ein Weiterleben trotz allem hoffen lässt. Gott sei Dank.
Peter Fleckenstein, Pfarrer der evangelischen Versöhungskirchengemeinde Ingelheim, November 2022
Evangelische Versöhungskirchengemeinde Ingelheim
#MonatsImpuls Oktober 2022

"Die Zukunft war früher auch besser!“"
In diesen Tagen des Krieges in der Ukraine, der immer neuen Bilder von Zerstörung und Leid, lässt sich schwer Gutes finden. Die Verteuerung von Energie und Lebensmitteln stellt viele vor große Probleme. Zudem steigen gerade wieder die Covid-19 Fallzahlen. Kommen nun die Maßnahmen der vergangenen zwei Jahre zurück? Abstandhalten, Hygiene beachten, Maske aufsetzen und vielleicht sogar allein daheim hocken? Nach dieser ganzen Zeit des „Lockdown“, die wir alle erlebt haben, würde man doch gern wieder zur Normalität zurückkehren und mit anderen einfach mal wieder fröhlich zusammensitzen. – So, wie früher. – Früher, so geht es einem durch den Kopf, war alles besser. Und während man das denkt, erhebt sich der Widerstand in einem selbst. War früher wirklich alles besser?
Den Münchner Komiker Karl Valentin bewegte diese Frage zu der etwas provokativen Aussage: „Früher war alles besser - die Zukunft war früher auch besser!“ Ein Lacher für sein Publikum und eine grandiose Antwort. Jeder, der die Vergangenheit mit verklärten Augen betrachtet, wird zugeben müssen, dass er sich selbst damals Hoffnung auf eine gute Zukunft gemacht hat.
Wie sehe ich mein eigenes Leben? Kommen da nicht manchmal die Gedanken an Zeiten, in denen ich körperlich fitter, geistig agiler und auch hoffnungsvoller war, weil mir in meinen Träumen die Welt noch offenstand? Wie viele Möglichkeiten hatte ich damals, mein Leben in so viele Richtungen zu lenken? Letztlich musste jeder von uns Entscheidungen treffen, die zugleich unsere Auswahlmöglichkeiten einschränkten. Alle Entscheidungen waren mit Bedingungen und Konsequenzen verknüpft. Einen Beruf zu ergreifen, bedeutete gleichzeitig, sich an Termine zu halten, Aufgaben erledigen zu müssen und die Freizeit oder die Familie den beruflichen Erfordernissen unterzuordnen. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Wir haben also in der Regel in der Vergangenheit Entscheidungen getroffen, mit denen wir die Zukunft zu unserer Gegenwart gemacht haben. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass es Menschen unter uns gibt, die sagen würden, dass sie nie die Möglichkeiten hatten, Entscheidungen zu treffen. Da geht es um schwere Schicksalsschläge und oft um Tragödien.
Als Christen sind wir uns dessen bewusst, dass da Menschen neben uns leben, die unsere Hilfe brauchen. „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ Wir haben mit diesen Worten von Jesus Christus gelernt, dass wir uns derer annehmen sollen, die unsere Unterstützung dringend benötigen. Daher ist es unsere Aufgabe, die Gegenwart mit offenen Augen zu sehen, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Manches ist dabei nicht einfach. Jesus Christus sagt: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lukas 9, 62)
Jesus selbst ist einen schweren Weg gegangen. Er, der sich mit seinen Jüngern um Kranke und Bedürftige gekümmert hat, der den Verzweifelten Hoffnung zugesprochen hat, ging seinen Weg bis Golgatha, bis ans Kreuz. „Früher war alles besser“, klingt hier absurd und völlig deplatziert. Es war die Entscheidung Jesu Christi, seinen Weg konsequent bis ans Ende zu gehen.
Die Jünger, die am Karfreitag völlig fassungslos waren und womöglich glaubten, dass alles umsonst war und am Ende die Gewalt gesiegt hat, werden am Ostersonntag eines Besseren belehrt. Durch schwere Zeiten hindurch bleibt die Botschaft Jesu Christi bestehen und sein Wort gilt auch für uns heute in diesen scheinbar trüben Tagen. Jesus Christus spricht: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
So wünsche ich Ihnen einen hoffnungsvollen Blick nach vorne,
Ihr Thomas Stegmann, Pfarrer in Mommenheim-Lörzweiler, Oktober 2022
#MonatsImpuls September 2022
"Bildung heißt, sich als Bild Gottes zu verwirklichen und würdig zu erweisen"
»Manchmal braucht es einen langen Atem und viel Geduld!« So könnte das Résumé einer Lehrerin, eines Lehrers klingen. Auf Hildegard von Bingen trifft es in jedem Fall zu, denn es dauerte rund 800 Jahre, bis sie offiziell die Würdigung erhielt, die ihr in der religiösen Praxis vieler Gläubiger längst gebührte. Beinahe auf den Tag genau zehn Jahre ist das jetzt her: Am 7. Oktober 2012 erhob Papst Benedikt XVI. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin. Seither mischt sie mit im Konzert der großen Theologen, als eine von vier Frauen. »Scivias« – »Wisse die Wege (des Herrn)«. So heißt ihr erstes und bekanntestes Werk. Und mit diesem Anliegen bringt sie auf den Punkt, welches Ziel Bildung hat: Kenntnis. Kenntnis darüber, wie der Mensch sich als Bild Gottes verwirklicht und würdig erweist. Aber auf welche Weise kann ein solcher Bildungsweg gelingen?
»Wenn Hildegard heute eine Schule gründen würde…« Schülerinnen einer zehnten Klasse haben vor zwei Jahren am Hildegardistag genau darüber nachgedacht. Schnell waren sie sich darüber einig, dass an Hildegards Schule wohl ein recht umfassender Fächerkanon gelehrt werden würde. Ein Unterricht, der den Menschen als Ganzes in den Blick nähme. Und dass es Hildegard wohl wichtig wäre, diejenigen besonders zu fördern, die es in der Gesellschaft mit der gleichberechtigten Anerkennung schwer haben. Die Schülerinnen stellten sich eine Schule vor, die Kopf, Herz und Hand fordert und fördert. Eine Schule, in der junge Menschen ermutigt werden, ihrem Herzen zu folgen, ihre Stimme zu erheben, Konventionen zu hinterfragen und sich hier und da durchaus auch den Gepflogenheiten zu widersetzen, also: einzustehen für ihre Überzeugungen und sich nicht von scheinbar Mächtigen einschüchtern zu lassen.
Hildegard ist diesen Weg gegangen. Einen Weg durch die Welt hindurch hin zu Gott – davon war sie überzeugt. Und unterwegs gestaltete sie diese Welt in der tiefen Gewissheit, Gottes Ebenbild zu sein.
Braucht unsere Welt nicht genau das: junge Menschen, die gebildet verantwortlich die Welt um sich herum formen?
Wie nachvollziehbar ist es darum, dass auch Schulen den Namen Hildegards tragen. Und es liegt an uns, dass aus dem Nomen dann auch ein Omen wird. Auch das ein Bildungsweg, bei dem sicher ist: Manchmal braucht es einen langen Atem und Geduld.
Julia Kalbhenn, Schulpfarrerin an der Hildegardisschule in Bingen, September 2022
Diese Seite:Download PDFTeilenDrucken
Abonnieren Sie unseren Newsletter
Liebe Leserin, lieber Leser, hier lesen Sie am jeweils letzten Freitag im Monat einen neuen #MonatsImpuls, geschrieben von unseren Pfarrerinnen und Pfarrern im Dekanat Ingelheim-Oppenheim.
Sie möchten noch mehr über das kirchliche Leben im Dekanat erfahren? Abonnieren Sie gerne unseren Newsletter mit monatlich neuen spannenden Informationen aus über 41 Kirchengemeinden des Dekanats, Veranstaltungstipps, die Sie nicht verpassen sollten und wir informieren Sie darüberhinaus zu überregionalen Themen unserer Nachbardekanate der Propstei Rheinhessen und Nassauer Land sowie aus unserer Landeskirche (EKHN). Wir freuen uns auf Sie!
Newsletterarchiv 2022 / 2023
#MonatsImpuls Nr. 27 | 28. Juli 2023
#MonatsImpuls Nr. 26 | 30. Juni 2023
#MonatsImpuls Nr. 25 | 26. Mai 2023
#MonatsImpuls Nr. 24 | 28. April 2023
#MonatsImpuls Nr. 23 | 31. März 2023
#MonatsImpuls Nr. 22 | 24. Februar 2023
#MonatsImpuls Nr. 21 | 27. Januar 2023
#MonatsImpuls Nr. 20 | 23. Dezember 2022
#MonatsImpuls Nr. 19 | 25. November 2022