(30.1.2025). Konzentrierte Stille in der voll besetzten Bibliothek der Integrierten Gesamtschule Kurt Schumacher in Ingelheim. Aufmerksam hören die mehr als 60 Jugendlichen den Berichten zu, die Gleichaltrige für das Präventionsprojekt „Gewalt hat eine Geschichte“ zusammengetragen haben. Sich mit dem Thema „Gewalt“ in Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen, dazu hatte das Evangelische Dekanat Ingelheim-Oppenheim Jugendliche auf Initiative von Dekan Olliver Zobel aufgerufen.
Im Dekanat ist das Projekt natürlich nicht unbekannt: Seit mehr als zwölf Jahren setzt das evangelische Jugendhaus in Oppenheim damit ein deutliches Zeichen gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Die Idee kam so gut an, dass in der Region mit unermüdlichen Engagement jährlich mehr und mehr Projekte von Schulen und Kirchengemeinden eingereicht wurden. Nun hat das Evangelische Dekanat Ingelheim-Oppenheim das jugendpolitische Bildungsformat auf die Region Ingelheim und Bingen ausgeweitet und feierte am 24. Januar 2025 Premiere an der IGS in Ingelheim. Durch die rund zweistündige Veranstaltung führte Dekan Olliver Zobel.
„Was ist so schlimm daran, anders zu sein?“
Stolpersteine, ein Zeitzeugengespräch zu den Geschehnissen in der Reichspogromnacht, eine deutsch-israelische Schüler:innenbegegnung und die Entwicklung eines Actionbounds über das jüdische Leben in Ingelheim in der NS-Zeit: vielfältig waren die Themen, mit denen sich vier Konfirmand:innen- und Schulgruppen in den vergangenen Wochen auseinandergesetzt haben - von der Zeit des Nationalsozialismus bis hin zu aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Für einige war es 80 Jahre nach Kriegsende eine sehr persönliche Begegnung mit den damaligen Ereignissen.
„Mit euren Projekten tragt ihr dazu bei, die Erinnerung an die Gräueltaten von damals wach zu halten“, rief Pfarrer Christian Brost den Jugendlichen zu. „In einer Zeit, in der die Demokratie von extremen Kräften unter Druck ist, müssen wir uns wieder neu für sie einsetzen“, so Brost. Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist er Inhaber der Profilstelle Gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Ingelheim-Oppenheim, mit der er das Projekt künftig unterstützt. Wie aber wird Geschichte erlebbar? Was können die Menschen aus der Vergangenheit lernen? „Und was ist so schlimm daran, anders zu sein?“, brachte es die Konfi-Gruppe aus Bingen auf den Punkt. Eine vermeintlich einfache Frage, die aber mit Blick auf den Internationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2025 zum Nachdenken anregte.
Stolpersteine, Zeitzeugengespräche und eine deutsch-israelische Jugendbegegnung
„Die Stolpersteine haben uns nicht zum Stolpern gebracht.“ Das stellte die Konfi-Gruppe der Christus- und Johanneskirchengemeinde in Bingen bei ihrem ersten Rundgang zum Thema „Jüdische Verfolgung in Bingen“ mehr als einmal fest. Viel zu oft würden sie übersehen. Bei ihrem zweiten Rundgang, der an der Johanneskirche begann, hieß es dann „mit Herz und Kopf“ ganz genau hinzuschauen. So wuchs in der Auseinandersetzung mit den kleinen Kupfertafeln nach und nach die Verbundenheit mit den Menschen und ihren Geschichten, die sich hinter den einzelnen Stolpersteinen verbergen.
Die Jugendlichen des Ingelheimer Konfi-Moduls zum Projekt „Gewalt hat eine Geschichte“ beschäftigten sich in ihrer Präsentation mit den Geschehnissen der Reichspogromnacht von 1938 und den Folgen für die jüdische Bevölkerung. Emotional erlebbar wurden die schrecklichen Ereignisse durch eingespielte Tonaufnahmen und der bewegenden Schilderung eines 94-jährigen Zeitzeugen aus Ober-Ingelheim.
Der dritte Projektbeitrag zeigte einmal mehr die Kraft der persönlichen Begegnung. Die Teilnehmenden der deutsch-israelischen Schüler:innenbegegnung des Stefan-George-Gymnasiums (SGG) in Bingen berichteten von ihrem beeindruckenden ersten Besuch in Haifa. Sie erzählten, wie herzlich und offen sie aufgenommen wurden. Schnell entstanden Freundschaften. Die israelischen Schüler:innen wiederum erlebten bei ihrem Gegenbesuch während einer Ausflugsfahrt nach Straßburg u. a. mit Erstaunen, einfach so über Grenzen in ein anderes Land fahren zu können. Nachdem durch die Ereignisse des 7. Oktober 2023 zunächst kein weiterer Austausch möglich war, nutzten sie fortan die digitalen Möglichkeiten, um in Kontakt zu bleiben. Denn die Sorge, wie es den Freunden in Israel gehe, war groß. Durch diese Erfahrung rückte das weltpolitische Geschehen plötzlich und unerwartet ganz nah an die Lebenswelt der Jugendlichen heran - ein Grund mehr, so die Schüler:innen, sich unermüdlich für Frieden und Demokratie einzusetzen.
App macht Geschichte erlebbar
Das vierte vorgestellte Projekt wurde in großen Teilen digital umgesetzt: "Auf den Spuren von Hans Neumann" heißt der interaktive Rundgang. Weit über zwei Jahre hatte sich die Anti-Gewalt-Anti-Rassismus-AG der IGS Ingelheim in Zusammenarbeit mit dem Weiterbildungszentrum (WBZ) in Ingelheim mit dessen Entwicklung beschäftigt. Entstanden ist ein Actionbound (eine Mischung aus digitaler Schnitzeljagd und Geocaching) über das jüdische Leben in Ingelheim zur NS-Zeit. Den Actionbound, konzipiert für Schüler:innen ab der 8. Klasse, finden Interessierte u. a. als App auf der Website des WBZ. Mehr über die Familie Neumann wusste gegen Ende der Veranstaltung der gleichnamige Neffe, Prof. Dr. Hans Neumann, zu berichten. Er war eigens aus Berlin angereist, schilderte eindrucksvoll den Lebensweg von Walter Neumann und zeigte sich beeindruckt vom Engagement der Jugendlichen.
Mit Mut und Hoffnung in die Zukunft
„Es ist gut, die Vergangenheit zu kennen“, erinnerte Dekan Olliver Zobel in seinem Grußwort die Jugendlichen und Gäste, „denn sie holt uns gerade mit Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen wieder ein.“ Auch Mobbing unter Jugendlichen gehöre dazu. Deshalb sei es wichtig, betonte Zobel, genau hinzuschauen, die Mechanismen von Gewalt auch in der Gegenwart zu verstehen und sich für andere einzusetzen. Die vier vorgestellten Beiträge stehen für ihn daher klar für Mut und für Hoffnung: Mut, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und für die Hoffnung, wie sie sich auch die Jugendgruppen in ihren Präsentationen wünschen: Dass so etwas nie wieder passiert!
Mit der Preisverleihung und einem herzlichen Dankeschön des Dekans an die Schulleiterin Kirsti Winzer der gastgebenden Schule in Ingelheim endete die beeindruckende Auftaktveranstaltung „Gewalt hat eine Geschichte“. Für das Jahr 2026 plant das Dekanat die Fortsetzung des jugendpolitischen Projekts. Eine entsprechende Ausschreibung findet sich nach den Osterferien hier auf der Website des Dekanats im Bereich Kinder- und Jugendarbeit.