Mitleiden statt Mitleid

Der Bildausschnitt des Kruzifix zeigt den Oberkörper Jesu am Kreuz © Jens Schulze / fundus.media

Gedanken zum Osterfest 2025 von Dekan Olliver Zobel

Wer hat sie nicht schon gesehen, die Menschen, die in der Fußgängerzone um eine kleine Spende bitten. Manche der Vorübergehenden lehnen das grundsätzlich ab. „Wird ja doch nur in Alkohol umgesetzt“, denken sie. Andere bleiben kurz stehen, Mitleid keimt in ihnen auf. Schließlich werfen sie einen Euro in die vor ihnen liegende Mütze und gehen weiter. Wieder andere besorgen den um Hilfe bittenden Menschen etwas zu essen oder, wenn es kalt ist, einen warmen Schlafsack. Und dann gibt es welche, die laden die Obdachlosen ein – z. B.  zu einem Mittagessen. Sie nehmen sich Zeit und hören zu.

In solchen Situationen hört man manchmal Lebensgeschichten, zu denen einem kaum noch etwas einfällt – erst Recht nicht ein Tipp oder ein Ratschlag, wie das Gegenüber aus dieser Situation der Obdachlosigkeit herauskommen könnte. Es gibt natürlich Anlaufstellen und Wohngemeinschaften in unserem Landkreis für Obdachlose, auf die man verweisen könnte, aber eine schnelle Lösung gibt es selten, selbst langfristig nicht. Da heißt es einfach, die Situation auszuhalten, mit an den Dingen zu leiden, die in unserer Gesellschaft schiefgelaufen sind und es auch weiter tun. Mit an den Worten zu leiden, die kaum vergessen, kaum vergeben werden können. Mit an der Tatsache zu leiden, dass wir in einer Welt leben, die nicht perfekt ist, in einer „gebrochenen Schöpfung“ leben, wie es die Bibel beschreibt.

Und genau darum geht es doch am Karfreitag mit der Kreuzigung Jesu. Gottes Sohn kommt auf die Erde, nicht einfach aus Mitleid und nicht um uns – bildlich gesprochen – schnell mal einen Euro in die Mütze zu werfen. Nein, er wird ganz Mensch, geht mitten hinein in unsere Gebrochenheit. Er leidet mit uns, teilt mit uns die Schmerzen, die uns Krankheit, Verlust oder Enttäuschungen bereiten. Ja, er geht sogar so weit, dass er ganz physisch mit uns leidet, am Ende sogar für uns leidet – am Kreuz.

Gewiss fällt es uns nicht ganz so schwer, das Leiden und Sterben Christi zu ertragen, weil wir um die Ereignisse am Ostersonntag wissen, um die Auferstehung und damit um die Überwindung all dieses Leides. Aber wir sollten gerade in diesen schwierigen Zeiten nicht zu schnell über den Karfreitag hinweggehen und uns ganz besonders von diesem mitleidenden Gottessohn ansprechen lassen.

Für mich ist es tröstlich, dass ich in meinem persönlichen Leid von Gott nicht nur etwas Mitleid erwarten darf, sondern ein wirkliches Mitleiden, ein Teilen meines Leidens, ein Dabeisein – auch wenn ich vielleicht selbst schuld bin oder nur die Folgen von etwas ausbade, das ich nicht zu verantworten habe. Gott will mir gerade als Gekreuzigter im Leiden nahe sein.

Gleichzeitig ist dies jedoch für mich auch ein Ansporn, dass ich mehr mit anderen mitleide. Ich sollte nicht nur kurzfristig etwas Mitleid empfinden und mich davon mit Geld freikaufen. Vielmehr sollte ich mir Zeit für diejenigen Menschen nehmen, die an der Ungerechtigkeit in den Krisengebieten der Welt leiden, die mit Krankheiten, ja, dem Tod kämpfen oder die einfach nicht mehr können und mal jemanden brauchen, der ihnen zuhört und das Leid mit ihnen teilt.

Jesus ruft uns dazu im 11. Kapitel des Matthäus-Evangeliums zu: Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Denn auch das gehört zum Mitleiden hinzu: Ich muss das Leid des anderen nicht allein tragen – Jesus teilt es mit mir. Und so bin ich manches Mal schon aus derartigen Gesprächen beschenkt hervorgegangen, auch wenn ich außer dem Mitleiden nichts für mein Gegenüber tun konnte.

So wünsche ich Ihnen ein frohes und gesegnetes Osterfest und viel Kraft für das Mitleiden an so vielen Punkten in dieser Zeit.

Dekan Olliver Zobel